Tarifverträge mit Wirkung für mehr als zwei Drittel der Beschäftigten
Einzelhandel. Zahlreiche Handelsunternehmen, die formal nicht an Tarifverträge gebunden sind, orientieren sich freiwillig an den bestehenden Tarifverträgen der Branche. Laut dem Handelsverband Deutschland (HDE) gelten die Branchen- und Haustarifverträge in der Praxis somit de facto für aktuell mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in der Branche.
Rückläufige Tarifbindung
Wie aktuelle Jahreszahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen, waren im Jahr 2023 noch 23 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber mit Branchen- oder Haustarifvertrag angestellt. Im Vorjahresvergleich ist der Wert damit um drei Prozent gesunken.
Die rückläufige unmittelbare Tarifbindung der Beschäftigten im Einzelhandel lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass die Branchentarifverträge nur noch für eine Minderheit der Beschäftigungsverhältnisse Anwendung finden.
Tarifverträge spielen im Einzelhandel eine zentrale Rolle
„Die Tarifverträge im Einzelhandel sind eine enorm wichtige Richtschnur für die gesamte Branche. Sie spielen damit eine deutlich wichtigere Rolle, als die reine Statistik zur Tarifbindung auf den ersten Blick vermuten lässt“, so der HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth.
So orientieren sich laut Verband auch zahlreiche Handelsunternehmen, die formal nicht tarifgebunden sind, an den Tarifverträgen der Branche.
Insgesamt gelten die Tarifverträge in der Praxis somit de facto für aktuell mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in der Branche.
Gestaltungsspielräume für mehr Tarifbindung stärken,
Empfehlungen der Mindestlohnkommission respektieren
Als Ursache für die seit Jahren in nahezu allen großen Branchen rückläufige Tarifbindung sieht der HDE vor allem den verringerten Gestaltungsspielraum für die Tarifvertragsparteien aufgrund der immer weiter zunehmenden gesetzlichen Regulierung.
„Vor allem die rein politisch motivierte, sprunghafte Mindestlohnanhebung auf zwölf Euro im Jahr 2022, die ohne die Beteiligung der unabhängigen Mindestlohnkommission durchgesetzt wurde, hat viel kaputt gemacht und in den Augen vieler den Wert von Tarifverträgen in Frage gestellt. Das darf sich so nicht wiederholen“, so Genth.
Die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission sei eine zentrale Säule des Mindestlohnrechts. Sie haben sich bei ihrer Empfehlung an der Tarifentwicklung zu orientieren.
„Damit hat der Gesetzgeber auch ganz bewusst und sehr gezielt verhindern wollen, dass der Mindestlohn regelmäßig aufs Neue im Zentrum des politischen Überbietungswettbewerbs vor Bundestagswahlen steht“, so Genth.
Auch ein Tariftreuegesetz sei strikt abzulehnen.
„Die branchenübergreifend rückläufige Tarifbindung ist vor allem auf die überbordende staatliche Regulierung im vergangenen Jahrzehnt zurückzuführen“, so Genth weiter.
Statt noch mehr Regulierungen sei mehr Gestaltungsspielraum für die Tarifvertragsparteien gefragt, um attraktive und passgenaue Tarifverträge zu vereinbaren.
HDE ist für flexiblere Tarifleistungen
„Es geht um mehr Flexibilität, um die formelle Tarifbindung für Unternehmen wieder attraktiver zu gestalten“, so Genth.
Dabei stehen zusätzliche Öffnungsklauseln in bestehenden Gesetzen, die neue Gestaltungsspielräume eröffnen, um die Passgenauigkeit und damit Attraktivität von Tarifverträgen zu steigern, im Mittelpunkt.
Genth: „Die Tarifverträge müssen sich anpassen können. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern die Ausgangsbedingungen in den Unternehmen. Das Prinzip „one size fits all“ wird den Interessen vieler Unternehmen oft nicht mehr hinreichend gerecht.“
Zudem würden insbesondere mittelständische Unternehmen oft von der Komplexität der jahrzehntealten Flächentarifverträge abgeschreckt.
Der HDE setzt sich darum auch für eine modulare Tarifbindung ein. So sollen sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber für einzelne Module, beispielsweise das Entgelt, aus einem Tarifwerk entscheiden können.
Strickt ablehnend steht der Verband einer Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (AVE) gegenüber. Eine AVE stelle ordnungspolitisch einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie und eine Einschränkung der grundgesetzlich garantierten, negativen Koalitionsfreiheit dar.
(Text: Handelsverband Deutschland (HDE)/hv/mh; Foto: AdobeStock_360783997)